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Title
Ein Gipfel für Morgen. Kontroversen 1917/18 um die Neuordnung Deutschlands auf Burg Lauenstein


Editor(s)
Werner, Meike G.
Series
marbacher schriften. neue folge (18)
Published
Göttingen 2021: Wallstein Verlag
Extent
446 S.
Price
€ 22,90
Reviewed for H-Soz-Kult by
Edith Hanke, Forschungsdokumentation/Max Weber digital, Bayerische Akademie der Wissenschaften

Vor über 100 Jahren hatte der umtriebige Jenaer Verleger Eugen Diederichs im Mai und September/Oktober 1917 und nochmals im Mai 1918 zu Versammlungen auf die mittelalterliche Burg Lauenstein abseits der Bahnlinie Berlin–München eingeladen. Deutschland befand sich 1917 im vierten Kriegsjahr, die Versorgungslage war schlecht, und die Aussicht auf einen baldigen Frieden wurde jeweils durch neue Krisenszenarien vereitelt. Auch innenpolitisch drohte das Kaiserreich zu zerbrechen. Zeit, sich Gedanken über die innere Neuaufstellung nach dem Krieg zu machen. Welche Zukunftsvisionen gab es? Reichte es aus, die Hauptbahntrasse zu verlassen und sich durch den abgelegenen Ort zu romantischen Stimmungen verleiten zu lassen?

50 bis 80 geladene Gäste kamen jeweils als Selbstzahler auf die von Ehrhard Meßmer zum Hotel ausgebaute Burg Lauenstein, zur ersten Tagung mussten sie sogar ihre Lebensmittelkarten mitbringen. Die Teilnahme setzte folglich ein hohes Maß an persönlichem Engagement voraus. Die im Band abgedruckten Namenslisten (S. 300f., 345f., 358f.) lesen sich als ein „Who is Who“ der Jugend- und Lebensreformbewegung, von Künstlern und Intellektuellen, von Personen mit vaterländischer Gesinnung, Anhängern des Kaisers bis hin zu überzeugten Sozialisten und Pazifisten, die wie Ernst Toller und Otto Neurath wenig später tragende Figuren der Münchener Revolution und Räterevolution wurden. Eine ungeheure Spannbreite von Persönlichkeiten, die teilweise als Autoren im „Warenhaus der Weltanschauungen“ des Verlegers Diederichs aktiv waren, aber diesen Kreis eben auch weit überschritten. Ehefrauen als Begleiterinnen waren angesichts der begrenzten Plätze nicht erwünscht. Dennoch spielten Frauen, wie Lulu von Strauß und Torney, die zweite Ehefrau von Eugen Diederichs, Ida Dehmel, die allabendlich mit ihrem Dichtergatten die sogenannte „Quadriga“ im Turmzimmer versammelte, ebenso wie Marianne Weber und Gertrud Bäumer als Repräsentantinnen der bürgerlichen Frauenbewegung, eine wichtige Rolle, worauf insbesondere der Beitrag von Teresa Löwe (S. 73–79) aufmerksam macht. Bei der dritten und letzten Tagung standen die Frauenfrage und die Jugendbewegung sogar im Mittelpunkt. Die Erfahrungen flossen in den autobiographischen Roman „Stille und Sturm“ von Berta Lask-Jacobsohn, der Schwester des im Krieg gefallenen Neukantianers Emil Lask, ein. Die Schilderung (S. 370–379) gibt einen intimen Einblick in die Personenkonstellationen und die Stimmung auf Burg Lauenstein. Das literarische Dokument ist ein Beispiel für die Vielgestaltigkeit der Sichtweisen, die man auf die Lauensteiner Tagungen einnehmen kann. Davon zeugen nicht zuletzt die 23 Beiträge, die im ersten Teil des Bandes abgedruckt sind. Politik-, Literatur- und Kulturwissenschaftler, Historiker und Philosophen setzen gerade durch die unterschiedlichen Blickwinkel kaleidoskopartig ein Bild von den Tagungen, den diskutierten Themen, aber auch dem künstlerisch-intellektuellen Impetus zusammen.

Eugen Diederichs wollte 1917 im Verbund mit der „Vaterländischen Gesellschaft 1914 in Thüringen“, dem Dürerbund und der Comenius-Gesellschaft einen „allgemeinen Kulturkongreß“ (S. 255) nach Lauenstein berufen. Getrieben war er von der Vision einer „künftigen deutschen Geisteskultur“ (S. 332), einer Erneuerung Deutschlands durch „die geistige Kraft unseres Volkes“ (S. 264). Im ersten Programmentwurf hieß es unter anderem „Deutschtum ist etwas Werdendes“ (S. 258). Dass es ganz anders kam, versuchen die in den Band aufgenommenen wissenschaftlichen Analysen durch Kontextualisierung und übergeordnete Narrative vom „unmöglichen Jahr“ 1917 (Jean-Jacques Becker) oder Bourdieus Feldtheorie herauszufinden. Wie sind die großen unüberbrückbaren Spannungen zu erklären, die es auf den ersten beiden Versammlungen gab?

Die große Sorge um die Zukunft führte bereits bei der ersten Tagung im Mai 1917 über „Sinn und Aufgabe unserer Zeit“ zu einem Schlagabtausch zwischen dem freireligiösen Wanderprediger Max Maurenbrecher und dem Gelehrten Max Weber. Es ging im Kern um die Frage, ob Deutschland den liberalen, an der modernen Wirtschaftsordnung orientierten Weg einer Parlamentarisierung einschlagen oder einem altpreußischen, organisch-romantisch verklärten Staatsideal folgen sollte. Bei der zweiten Tagung im September 1917 wurde die Kontroverse fortgesetzt. Weber hatte entscheidenden Einfluss auf die Themensetzung „Das Führerproblem im Staate und in der Kultur“ genommen. Eindringlich schildert der Richter und Kunstsammler Gustav Schiefler den Schlagabtausch zwischen „scharf geschliffenster Dialektik“ und dem nach rechts abgewanderten Theologen: „Die Redeschlachten wurden teils im Rittersaale, teils im Burghof geschlagen […]. Herr Dr. Maurenbrecher kam gegen den mit blitzender Klinge fechtenden Max Weber nicht auf; es war ein Genuß, wie dieser nach jeder Erwiderung aufsprang und Schlag auf Schlag den Gegner abführte.“ (S. 400f.). Eine Beruhigung durch Mysterienspiele, Dichterlesungen oder Tanzaufführungen gab es nicht. Im Gegenteil schimpfte der Berliner Nationalökonom und Soziologe Werner Sombart, dass das Ganze dadurch zu einem „Variété“ verkommen wäre (S. 392).

Analytisch liefert Gangolf Hübinger, der Webers Lauenstein-Äußerungen 1984 für die Max Weber-Gesamtausgabe erstmals nach den damals bekannten Protokollauszügen des Kunstwart-Schriftleiters Wolfgang Schumann und Notizen des Soziologen Ferdinand Tönnies ediert hat1, die entscheidenden Stichworte. Im „Lauensteiner Diskursfeld“ (S. 111) kämpft Max Weber gegen den „Geist von Lauenstein“. Er richtet sich mit scharfen Worten nicht nur gegen die „Staatsmetaphysiker um Maurenbrecher“, sondern – so Hübinger – auch gegen „die jugendbewegten Romantiker“ und „die sozialistischen Gemeinwirtschaftler“ (S. 112). Weber wurde der große Gegenspieler gegen die ursprünglichen Planungsabsichten. Die beiden ersten Tagungen standen „im Schatten Max Webers“. Und so nimmt Eugen Diederichs auch gegenüber Max Weber kein Blatt vor den Mund, indem er ihn am 22. Juni 1917 brieflich als einen „Vertreter des kritisch-intellektualistischen Typus“ (S. 288) bezeichnet. Gewünscht hätte er sich neben den „ethisch […] Wollenden“ die Anwesenheit der „Schöpferisch [sic!] Wollenden“ (S. 310f.), die „platonisch schauend“ und politisch gestaltend eingreifen – ein Typus wie vielleicht Max Scheler (S. 288). Und so folgert Hübinger ausblickend, dass Lauenstein „in Umkehrung der Ursprungsidee zum intellektuellen Testlauf der Weimarer Ideenkämpfe“ geworden ist (S. 115).

Die Quellenlage zu den Lauensteiner Kulturtagungen war bislang dünn, was auch damit zusammenhing, dass die Teilnehmenden, obwohl auch Journalisten und Angehörige des schreibenden Metiers unter ihnen waren, sich zum Stillschweigen verpflichtet hatten. Ein freier und – das hieß 1917/18 – ein zensurfreier Austausch sollte fernab der Öffentlichkeit möglich sein. Einen Zeitungsbericht gab es daher nur von der letzten Tagung (S. 369f.). Max Weber erscheint durch die zusammengestellten Quellentexte – sie finden sich im zweiten Teil des Buches – als die intellektuell dominierende Persönlichkeit der beiden Tagungen 1917. Dies spiegelt sich auch in den abgebildeten Fotographien wider. Um Max Weber gruppieren sich aufmerksame weibliche und männliche Zuhörer, wie es das mittlerweile berühmte Bild des kritisch-ehrfürchtig aufschauenden Ernst Toller einfängt. Die beiden Lauenstein-Alben des Jenaer Fotographen Alfred Bischoff sind als Kernstück im Mittelteil des Bandes aufwändig präsentiert. Dieser Schatz des Marbacher Literaturarchivs wurde durch Meike G. Werner, die Bandherausgeberin, gehoben. Ihr ist es zu danken, dass die 34 Fotographien in mühevoller Recherchearbeit – sie nennt es „Bildphilologie“ (S. 17) – mit den Namensangaben der Dargestellten versehen sind. Die Visualisierung gibt einen direkten atmosphärischen Eindruck und spiegelt die Intensität der Debatten im Burginnenhof und in kleinen Gesprächsgruppen wider. Reflektiert wird der Umgang mit Bildern als historische Quellen im Beitrag von Karin Priem (S. 198–204). Die Erschließungsarbeit der Herausgeberin ist auch in das informative Personenregister am Schluss des Bandes eingeflossen.

Auf jahrelangen Recherchen, Kenntnissen und persönlichen Kontakten (vgl. S. 417f.) beruht die zusammengetragene Textauswahl zu den drei Lauensteiner Tagungen. Es sind Einladungsschreiben, Teilnehmerlisten, Programmentwürfe, Tagebuch-Aufzeichnungen, Korrespondenzen der Teilnehmer, aber auch briefliche Mitteilungen an unbeteiligte Dritte, sowie autobiographische und künstlerische Zeugnisse. Teilweise sind es nur kleine Schnipsel oder Anspielungen, was aber noch mehr deutlich macht, welche Forschungsleistung in der Zusammenstellung liegt. Den Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des „Gipfel“-Buches, die im Dezember 2017 zu einer Tagung des Deutschen Literaturarchivs in Marbach zusammenkamen, lagen diese Quellentexte vor, wobei die Herausgeberin die neue Kommunikationstechnik eines Filehosting Dienstes nutzte, um den „virtuellen Archivkasten“ (S. 14) vorab zugänglich zu machen. Liest man das Buch von vorne, so wundert es manches Mal, dass Zitate sich wiederholen, weil sie eben so eingängig und plastisch sind. Die Quellentexte im zweiten Buchteil sprechen allerdings für sich, und so wäre zu empfehlen, das Buch von hinten nach vorne zu lesen: erst die Quellentexte – die das Etikett „Lauenstein-Edition“ verdienen –, dann die heutigen Interpretationen und wissenschaftlichen Analysen, dazu aber immer mit einem Blick auf die aussagekräftigen Fotographien im Mittelteil. Gelungen ist mit dem Band, eine der wohl letzten weltanschaulich kontroversen Debatten um die Zukunft Deutschlands vor dem Ausbruch der Revolution 1918/19 lebendig werden zu lassen und zwar in einer Form, die neben der streng rationalen Auslegung auch sehr sensibel literarische und visuelle Wahrnehmungsebenen des Historischen erschließt. Es freut einen daher auch nach über 100 Jahren mit dem Kunstkritiker Karl Scheffler, dass der Zug „in diesem weltverlassenen Winkel die ganze Hochintelligenz von Deutschland ausgespien“ hat (S. 406) und wir dank des „Gipfel“-Buches Anteil an diesem „spektakulären Moment deutscher Intellektuellengeschichte“ (S. 14) haben können.

Anmerkung:
1 Max-Weber-Gesamtausgabe, Band I/15: Zur Politik im Weltkrieg. Schriften und Reden 1914–1918, hrsg. v. Wolfgang J. Mommsen in Zusammenarbeit mit Gangolf Hübinger, Tübingen 1984, S. 701–707.

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